Verschwörer sind immer die anderen

Über den Sinn mythischer Sprechweisen und den Unsinn, sie faktisch widerlegen zu wollen

Alle reden über Verschwörungsmythen, aber natürlich sind es immer die anderen, die sie verbreiten. Doch was ist eigentlich ein Mythos? Schon in den 1950er Jahren befasste sich mit dieser Frage der französische Literaturwissenschaftler Roland Barthes und kam zu dem banal anmutenden Ergebnis, dass der Mythos eine Aussage sei. Eine Aussage allerdings, die sich stets in der Schwebe befindet, die sich weder am sprachlichen (oder bildlichen) Zeichen festmachen lässt, noch im Inhalt aufgeht oder in dem, worauf sie deutet.

Was haben uns Barthes Texte für die heutige Mythenbildung noch zu sagen? Und warum betreffen seine Thesen nicht etwa nur die “Ungebildeten” oder “Verschwörungserzähler”, sondern auch die professionellen Vermittler von Wirklichkeit und Wissenschaft?

Der Mythos als Räuber von Kontext und Geschichte

Der Mythos ist eine Aussageform, die Begriffe verwendet, denen ihre Geschichtlichkeit und ihr Kontext entzogen wurde, um sie in ein neues Netz von Relationen einbinden zu können. Der Mythos lügt in diesem Sinne nicht, er nimmt hier ein bisschen weg und deutet dort ein bisschen um, bis die Begriffe und Inhalte zu seiner Botschaft passen.

Möglich ist dies, weil der Mythos meist Selbstverständlichkeiten oder abstrakte Schwammwörter aufgreift, die alles und nichts bedeuten können. Er fordert leidenschaftlich gern Bildung, Freiheit, Empathie und Gesundheit für alle oder setzt sich für die Schwachen und Geknechteten ein, hier die Obdachlosen, dort die Flüchtlinge, ohne sich für deren Schicksal wirklich zu interessieren. Denn nicht das Subjekt oder der Begriff interessieren den Mythenerzähler, sondern die Art und Weise, wie er diese in seine Botschaft einfügen kann.

Der Mythos enthält keine Botschaft, er inszeniert sie

Mythen nehmen ein Ereignis als Anlass, um von etwas zu erzählen, was sich darin nicht erschöpft. Der Mythos ist selbst das Ereignis, das er illustriert und bebildert, dem er Spannung und Dramatik verleiht, an dessen Stelle er schließlich tritt. Auch die Dramaturgie, also die Art, wie das Erzählen des Mythos in Szene gesetzt wird, trägt dazu bei, seine Botschaft zu formen. Gleiches gilt für jeden Versuch, den Mythos mit den gleichen Mitteln zu widerlegen.

Betrachtet man auf diese Weise den Mythos und insbesondere den Alltagsmythos, wie Barthes ihn beschrieb, nicht als einen Inhalt, klopft man nicht allein den Wahrheitsgehalt seiner Begriffe und Deutungen ab, zeigt sich bald, dass der Mythos keine Aussageform ist, die irgendeiner Gruppe oder den Angehörigen eines bestimmten Denkkollektivs vorbehalten bliebe.

Stattdessen gilt es, die Inszenierung und die damit verbundene Intention freizulegen. Besonders leicht fällt dies, wenn man sich Videos von sogenannten Verschwörungserzählern anschaut. In 99 von 100 Fällen wird deutlich, dass die „Beweisführung“ genau das wiedergibt, was sich schon zuvor im Kopf des Mythologen, der die Verschwörung aufdecken möchte, abspielte.

Der Mythos als Geflecht aus Relationen

Vor einigen Wochen sah ich ein besonders erschreckendes Video dieser Machart, das ich – aus Gründen – hier nicht verlinke. Der Produzent wollte darin nachweisen, wer seiner Ansicht nach zum sogenannten „Deep State“ gehört. Der Mythos entstand hier durch die assoziative Aneinanderreihung von Namen, Fakten und Bewertungen. Jede Behauptung wurde durch eine Quelle belegt, häufig handelte es sich um Artikel aus der Wikipedia. Die Behauptungen an sich waren also nicht unwahr, allein der Kontext fehlte. Der Zusammenhang, in den die „Fakten“ gestellt wurden, ergab sich lediglich aus den Relationen, die der Erzähler vermutete und herstellte.

Den dramaturgischen Höhepunkt stellte dann der Verweis auf einen gewissen Felix Mendelssohn Bartholdy dar. Um die Spannung zu steigern, fragte der Erzähler sein Publikum: „Und wer ist dieser Felix Mendelssohn Bartholdy?“ Hmm, dachte ich, lass mich nachdenken, ein Komponist des 19. Jahrhunderts? Weit gefehlt. „Ein Jude!“, lautete die triumphierend ausgestoßene Antwort. Noch dazu einer, der aus einer wohlhabenden Hamburger Kaufmannsfamilie stamme.

Es wäre nun ein Leichtes, den eigenen Ekel über eine solche Vorgehensweise zu kanalisieren, indem man den Versuch unternimmt, den Wahrheitsgehalt dieser Aussage zu widerlegen. Zu behaupten, Bartholdy sei gar kein Jude gewesen, da die Familie zum Protestantismus konvertiert war.

Wird die Aussage damit aber wahr oder falsch? Für den Mythos, der hier inszeniert wird, ist diese Frage komplett irrelevant. Wer sie stellt, ist ihm bereits auf den Leim gegangen. Denn die eigentliche Lüge besteht ja darin, dass es ausreiche, jemandem ein bestimmtes Merkmal, eine Zugehörigkeit nachzuweisen, um seine Verstrickung in ein Netz aus Relationen zu belegen, das aus der mythischen Erzählweise erst entstanden ist.

Den Mythos enttarnen: Nicht die einzelne Aussage ist wahr oder unwahr, sondern die Ineinssetzung von Fakten und Bewertungen führt zur mythischen Wirklichkeit

Lügen lassen sich durch Faktenchecks aufdecken; die mythische Sprechweise bleibt davon unberührt, weil ihre eigentliche Botschaft in der Inszenierung und nicht in einzelnen Inhalten zu finden ist.

Ich vermute, bis hierhin konnten mir die meisten meiner Freunde und Leser zustimmen. Dann bitte jetzt einmal tiiiief durchatmen. Denn nicht alle Mythen sind so leicht zu enttarnen wie die von sogenannten Verschwörungserzählern. Die mythische Aussageform findet sich überall und wesentlich auch in den von offiziellen Medien und Marketingagenturen übermittelten Botschaften. Das gilt umso mehr in einer Zeit, in der man Haltung und Stellungnahmen durch ein offizielles „Framing“ absichert, und politisches Handeln sich immer mehr auf sinnloses Diskutieren enthistorisierter Begriffe konzentriert.

Die Welt und die Regeln, auf die wir uns gestern noch einigen konnten, existieren nicht mehr. Unsere Begriffe und Vorstellungen sind einem rasanten Wandel unterworfen, man betrachte hierzu nur, in welch kurzer Zeit aus dem Begriff „Pazifist“ ein Schimpfwort wurde.

Deutlich wird: Die mythische Sprechweise ist nicht den Ungebildeten oder Unaufgeklärten vorbehalten. Im Gegenteil: Wer in der Wirklichkeit verankert ist und nicht in einem wie auch immer gebildeten Denkkollektiv, kann sich ihr leichter entziehen. Sie zeigt sich nicht allein auf der Seite “konservativer Kräfte” oder von Esoterikern, sondern immer auch dort, wo sich Aufklärung und Macht verbinden und eine Betrachtungsweise als „natürlich“ oder „selbstverständlich“ behaupten, die dem Individuum die eigene Interpretation von Wirklichkeit abspricht. Sie zeigt sich insbesondere dort, wo Fakten in der Manier des Inquisitors aneinandergereiht werden, weil sie nicht der Klärung eines Sachverhalts geschuldet sind, sondern eine Schuld beweisen sollen, die längst vermutet wurde, bevor die Beweisführung begann.

Der Mythos als vermittelte Wirklichkeit

Als Aussageform nährt sich der Mythos von unseren Kommunikationsmitteln. Nun wissen wir alle, dass diese sich vehement gewandelt haben und mit ihnen auch die Formen, wie wir uns Weltwissen aneignen.

Nie war es einfacher als heute, vermeintliche oder echte Fakten am digitalen Wegesrand einzusammeln und sie zwecks Beweisführung aneinanderzureihen. Niemals hatten so viele Menschen Zugang zu einer ausufernden und beliebigen Belästigung durch Informationen auf allen digitalen Kanälen.

Doch das, was es über den Menschen und seine Wirklichkeit zu wissen gilt, wird immer kryptischer, verklausulierter, abstrakter. Es lässt sich nicht einfach vorfinden und überreichen. Es muss decodiert, in Sprache rückübersetzt werden, um es zu vermitteln. Das Subjekt befindet sich nicht mehr in einer Welt, die es unmittelbar begreifen und in der es sich selbst als wirksam erfahren kann. Es sieht sich in ein Netz aus Relationen gestellt, in dem es sich nur über den vermittelten Wissenserwerb erkennen kann. Doch es ist kein Netz, das es auffängt, sondern das von jenen gefertigt wurde, die sich berufen fühlen, die wirkliche Wirklichkeit zu vermitteln. Ihre Wirklichkeit.

Die Vermittler dieser neuen Wirklichkeit sind zum großen Teil gebildete und einer bestimmten Lebensweise verpflichtete Medienvertreter. Journalisten, Blogger, YouTuber, die sich damit befassen, das aktuelle Weltwissen in eine für Laien verständliche Form zu bringen. Damit dies gelingt, muss hier ein wenig weggelassen und dort ein wenig hinzugefügt werden. Gerade der Wissenschaftsjournalismus befindet sich immer in der Not, Dinge vereinfachen und veranschaulichen zu müssen. Gegenwärtig kommt noch der zwanghafte Versuch hinzu, unterhaltsam sein zu wollen. Mit Geste und Mimik, Stimme und Tonfall oder gar einer Show-Einlage darauf zu verweisen, wie schwer all das Wichtige und Bedeutsame, das man zu sagen hat, den einfachen Gemütern zu vermitteln ist.

Speziell in der digitalen Medienwelt zeigt sich zudem der Hang, nicht mehr zu berichten, d a s s etwas ist, sondern wie etwas zu deuten ist (zufällige Auswahl):

Die Gefahr ist groß, dass die vermittelte Wirklichkeit selbst mythischen Charakter annimmt, wenn dabei zwischen Fakten und ihrer Bewertung nicht unterschieden wird. Wenn der Überbringer der Botschaft keine Distanz zu deren Inhalt und zu ihrem Absender mehr einhält. Wenn er den Adressaten als einen Empfänger betrachtet, für den er die Botschaft so aufbereitet, dass sie ihm zugleich Werte, Meinungen, eine Haltung übermittelt, die über ihren eigentlichen Gehalt hinausgehen.

Der Verschwörungserzähler ist zu Recht skeptisch gegenüber einer distanzlos vermittelten Auffassung von Realität, die sich mit seiner Wahrnehmung von Wirklichkeit nicht deckt. Um sie zu widerlegen und Wirkmacht zu erfahren,  imitiert er jedoch genau diese Art der Wahrheitsfindung und Vermittlung oder meint zumindest, dies zu tun. Der Versuch erfolgt zumeist mit bescheidenen Mitteln und auf eine Weise, die leicht zu enttarnen ist. Letztlich aber hält er uns allen einen Spiegel vor, denn selbst wenn seine Aussagen leicht zu widerlegen sind, so ist es doch nicht die falsche Auffassung des Faktischen, die daran verstört, sondern es ist der Mangel an Kontext und Aufrichtigkeit, der sie zustande bringt.

Der Mythos als Schutz vor der Über-Macht und als Kampf um Deutungshoheit

Zu den Funktionen, die der Mythos als Sprechweise erfüllt, gehört es dem Philosophen Hans Blumenberg zufolge, den Angst erzeugenden „Absolutismus der Wirklichkeit“ zu überwinden. Der Mythos verleiht uns das Gefühl, unsere Geschicke steuern und sinnvoll ordnen zu können. Der Mythos wäre damit eine Aussageform der Schwachen und Machtlosen, die sich einer sie beherrschenden Über-Macht widersetzen.

Roland Barthes dagegen sah den Mythos als Instrument der Macht, als Aussageform all jener, die im Lande das Sagen und die Deutungshoheit haben. Im Unterschied zum religiösen Dogma tritt der Mythos aber nicht offiziell als Herrschaftsinstrument auf, sondern verweist auf das vermeintlich Selbstverständliche, Natürliche, das seinen Aussagen zugrunde liegt. Wir erleben heute, dass beide Aussagen wahr sind und dass die Kämpfe, die mithilfe mythischer Erzählweisen geführt werden, den Charakter kriegerischer Auseinandersetzungen annehmen.

Charakterbildung und das Lachen der Thrakerin: dem Mythos entgehen

Wie verhindern wir, dass dieser Krieg weiter von unseren Köpfen, Herzen und Mündern Besitz ergreift?

In seiner berühmten und gern zitierten Schrift zur Frage, was Satire dürfe, forderte Tucholsky ein vehementes „Alles“ ein. Übersehen wird dabei oft, dass Tucholsky eines voraussetzte: Die Intention des Satirikers, der etwas zeigen will, ohne zu beweisen, und der sich von einem „Hanswurst“, der allein Freude am Schmähen hat, deutlich unterscheidet. Denn auch ein solcher Hanswurst unterscheidet sich in der Art seiner Beweisführung nicht vom Verschwörungserzähler.

Die Arbeit am Mythos beginnt mit der Arbeit an uns selbst. Sie erschöpft sich nicht im Wissenserwerb, sie muss die Charakterbildung umfassen. Sie verwechselt die Wirklichkeit nicht mit einer Aneinanderreihung des aus „Daten“ gewonnenen Faktischen und versucht nicht, den Mythos zu widerlegen, indem sie ihn mit dem Absolutismus der eigenen Wahrheit konfrontiert.

Nicht der abertausendste Faktencheck dient der Annäherung an eine übergeordnete Wahrheit, sondern die Aufrichtigkeit und die Leibhaftigkeit, mit der ein Diskurs geführt wird, in der neben allen Evidenzen und Tatsachen auch das „Lachen der Thrakerin“ seinen Platz findet. Jener Thrakerin, die sich über unser Bemühen wundert, die Dinge am Himmel erklären zu wollen, während wir doch von dem, was offen vor uns liegt, keine Ahnung haben. Dem Mythos angemessen zu begegnen, bedeutet aber eben auch, sich der Vielfalt zu öffnen, ohne in Beliebigkeit zu verenden. Denn der Mythos ist Teil unserer Wirklichkeit, bildet keinen Gegenstandpunkt ab, sondern hält uns einen Spiegel vor und ruft uns zur Selbsterkenntnis auf.

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